Heinz Schönemann
DIE ÖFFNUNG DES »LINDENHOTELS« MIT DER AUSSTELLUNG »POLITISCHE PLAKATE« VON KLAUS STAECK IM MAI 1990.
Ein Rückblick nach 30 Jahren, gewidmet Rudolf Tschäpe, der viel zu früh an »der geheimnisvollen Krankheit« starb
In der Potsdamer barocken Neustadt behielt die auf das Jägertor von 1733 gerichtete und ursprünglich nach Norden ins ehemals kurfürstliche Jagdrevier führende Lindenallee durch Breite und Baumbestand einen dominanten Charakter unter den nord-südlichen Parallelen. Zwischen ihren wie in den anderen Rasterstraßen der Neustadt immer gleichen abgeputzten Bürgerhäusern fiel der rote Backsteinbau mit der Hausnummer 54 durch Einordnung, Größe und Fassadengliederung als ein herrschaftliches amtliches Gebäude heraus.
Dieses ehemalige Kommandantenhaus der militärisch geprägten Stadterweiterung hat während seines Fortbestehens vorwiegend der obrigkeitlichen Justiz gedient (was selten Gerechtigkeit bedeutete). Es war immer Stadtgefängnis, in der braunen Zeit unter der verharmlosenden Bezeichnung »Erbgesundheitsgericht« ein Instrument rassistischer Verfolgung.
Nach 1945 nutzte es die sowjetische Besatzungsgerichtbarkeit, dann das Ministerium für Staatssicherheit als Untersuchungshaftanstalt. Die Fenster des im Volksmund als »Lindenhotel« gefürchteten Hauses waren daher schwer vergittert und die Gebäudeecken von Kameras überwacht. Man wechselte im Vorbeigehen besser die Straßenseite.
Nach dem Mauerfall 1989 sind seine Insassen still und schnell verschwunden: Die Häftlinge in die Freiheit... die Wächter, um unterzutauchen. Es war ein »Sturm auf die Bastille« in der Otto-Nuschke-Straße (so hieß die Lindenstraße in der Zeit der »Blockparteien« – Nuschke ist ein Vorsitzender der Ost-CDU gewesen), wofür das düstere Amtsgebäude guten Anlass bot, nachdem der Volkszorn der ersten Tage sich zuerst an dem vergitterten seelenlosen Anbau an das alte Landsgerichtsgebäude in der Hegel-Allee abarbeitete, von dem es in einer Kabarett-Szene hieß: »Horch und Guck doch mal nach der anderen Seite...«
Aktivisten vom »Neuen Forum« planten zum 1. Mai 1990, das Kommandantenhaus als zivilgesellschaftliche Begegnungsstätte zu öffnen und dabei den im Hof des Hauses verborgenen Zellentrakt unverändert der Öffentlichkeit vorzustellen. Mich informierte der Potsdamer Astrophysiker Rudolf Tschäpe darüber, einer der Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs zum Neuen Forum von 1989, den die schon in Agonie liegende DDR noch mit einer harten Ordnungsstrafe bedrohte.
Tschäpe und ich waren miteinander bekannt und vertraut, seit er mit meinem Beistand (das war zugleich Försters Bedingung) seinen Freundeskreis auf dem Telegraphenberg für eine Ausstellung des Berliner Bildhauers Wieland Förster gewonnen hatte. Er war Förster bei dem Maler Otto Niemeyer-Holstein begegnet, erfuhr von dessen Behinderungen seitens orthodoxer Kulturpolitiker und sann auf Hilfe. Die jungen Wissenschaftler des Astrophysikalischen Instituts wollten mit ihrem Ausstellungsangebot im Kuppelbau des Großen Refraktors nicht nur Förster beistehen, sondern zugleich Aufmerksamkeit für das von Vernachlässigung bedrohte Gebäude erregen. Die außergewöhnliche Bildhauer-Ausstellung auf dem Potsdamer Institutsgelände wurde ein großes Ereignis, nicht nur weil zu ihrer Eröffnung der neugewählte Präsident der Akademie der Künste, der Filmregisseur Konrad Wolf, und der greise Dichter Erich Arendt, sondern auch zahlreiches lokales und überregionales Publikum erschienen war. Leider kam es nicht zur dauerhaften Aufstellung von Wieland Försters »Großer Neeberger Figur« auf dem Berg; es entstand aber schützendes Interesse für den Großen Refraktor.
Zur Öffnung des »Lindenhotels« entwickelte Rudolf Tschäpe die Idee einer unterstützenden Ausstellung »Politische Plakate« von Klaus Staeck im Zellenbau und bat mich um Hilfe für die Installation und Eröffnung. Er hatte Staeck bei einer Diskussion in der Akademie der Künste in Ost-Berlin getroffen, seine Zustimmung erhalten und auch bereits die Plakate beschafft. Bei der Berliner Diskussion (der die Auswahl folgte) war es vordringlich um Umweltschutz gegangen, während Tschäpe gern mehr die Wahrnahme der Meinungsfreiheit im Vordergrund gesehen hätte.
Staeck ergänzte einen ortsbezogenen Handzettel mit der Wanze: »Ruf doch mal an!« Mir gefiel die Idee sehr, denn auch ich schätze die Plakate von Staeck mit ihrem lapidaren Witz und ihrer Eindringlichkeit. Aber ein Gefängnis ist keine Galerie, und es sollte nichts verändert werden. Mir kam eine junge Praktikantin aus der Graphikwerkstatt der Schlösserverwaltung, Birgit Reissland (inzwischen ist sie eine angesehene Graphikrestauratorin des Rijkserfgoedlaboratoriums der Niederlande in Amsterdam) zu Hilfe. Sie hatte den erlösenden Einfall, die Plakate mit einer unteren Leiste zu stabilisieren, damit man sie überall frei aufhängen kann. Tagelang kletterten wir in den Gittern der Zellengänge, um die Plakate wirkungsvoll anzubringen – mit dem zusätzlichen Anspruch, möglichst einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Plakat und Ort herzustellen. Das Plakat mit der Wanze hing am Eingang und das zu Hasenohren gekniffte schwarzrotgoldene Kissen »Ordnung muss sein!« über dem zersessenen Sofa in der Wächterstube.
Staecks Plakate entlarvten am grauenhaften Ort Mittelmaß und Schäbigkeit »mit lakonischer Härte und Ironie« (Wieland Herzfelde). Vor 30 Jahren herrschte die Unsicherheit der Illusion: Könnte es »Wandel durch Annäherung« (besser: »Annäherung durch Wandel«) geben? Würden die zwei deutschen Partner mit den vier »regierenden« Botschaftern (2+4) Freiheit und Gleichheit erwirken? Vom Ende der Geschichte träumten manche schon...
Was damals Spontanität und Improvisation war, soll sich nun als professionelles Gedenkblatt wiederholen. Aber ist eine Zukunft nach dem Covid-19-Ausnahmezustand heute nicht ungewisser als sie es im Interregnum vor 30 Jahren war?